Der Geburtenrückgang gilt seit geraumer Zeit als enorme soziale und ökonomische Herausforderung für den Protestantismus und die Gesellschaft. Marius Heidrich geht in dieser Studie unter anderem der Frage nach, welchen Wert und welche Bedeutung Kindern in demographischen Auseinandersetzungen beigemessen wurden.
Krisenszenarien der Bevölkerungsentwicklung reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Dennoch stellte der »massive« Geburtenrückgang der 1960er Jahren eine wichtige Zäsur für die Bundesrepublik Deutschland dar. Die Funktionsfähigkeit des Sozialstaats genauso wie die Stringenz schöpfungs- sowie sozialethischer Anschauungen des Protestantismus hingen unmittelbar auch von stabilen demografischen Verhältnissen ab. Bereits der »Pillenknick« der 1960er Jahre stellte die sozialstaatlichen ebenso wie die gesellschaftlichen Ordnungen auf die Probe. In den anschließenden Debatten thematisierten unterschiedliche Gruppen die Bevölkerungsentwicklung und die mit ihr einhergehenden Wandlungen von Geschlechterrollen, nationalen Identitäten und individuellen Entwürfen der Familienplanung. Marius Heidrich stellt fest, dass für das gesellschaftliche und protestantische Selbstverständnis letztlich zwei Fragen zentral waren: Welche Bedeutung haben Kinder für und in unserer Gesellschaft? Und: Besteht Vertrauen in die Zukunft?
Inhaltsübersicht:
I. Einleitung
1. »Wir werden kleiner, ärmer und älter“. Gegenwärtige Debatten über den ‚demografischen Wandel' in der Evangelischen Kirche und in der Bundesrepublik Deutschland
2. «Ein ewig währender Untergang“. Demografie als Krisendiskurs. Europäische Bevölkerungsdebatten ab dem 19. Jahrhundert
3. »Der Geburtenkrieg“. Die Konstruktion des ‚Volkes' als demografische Kategorie und die Kulmination ‚bio-sozialer' Ordnungsvorstellungen im Nationalsozialismus
4. «Die Bevölkerungsbilanz des deutschen Volkes ist erschreckend“. Demografie-Debatten in Deutschland 1945-1989: Charakteristika und Phasen im Überblick
5. Fragestellungen und Aufbau
6. Methodik und Quellenlage
7. Stand der Forschung
II. »Rationalisierung des Fruchtbarkeitsverhaltens“. Der Protestantismus und die Bevölkerungswissenschaft. Weltbilder und Anschauungen
1. Kontinuitäten und Denksysteme. Evangelische Bevölkerungswissenschaftler vor 1945
2. Transformation und Institutionalisierung. Der Bevölkerungsdiskurs nach 1945
3. Indirekte Bevölkerungspolitik. Die Demografisierung der Bonner Familienpolitik in ihrer konstitutiven Phase
4. Pluralisierung der Fruchtbarkeit. Die familienethischen Imaginationen evangelischer Bevölkerungswissenschaftler inmitten des Wertewandels
5. Zusammenfassung. Die Bevölkerungslabore und die Laborbevölkerung zwischen Wissenschaft und Politikberatung
III. «Der Wille zum Kind“. Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen Restauration und Reformwillen. Die Suche nach sozialer Ethik
1. Krise der Familie. Der Geburtenrückgang als Symptom gesellschaftlicher Transformationen
2. Demografischer Wandel. Das Einholen verloren geglaubter Werte
3. Sexuelle Revolution. Der Protestantismus und die Neubefragung sozialer Ordnungen
4. Frauenfrage. Familienpolitik ohne die Familie und ohne die Frau?
5. Symptom des Symptoms. Die Krise der umlagefinanzierten Rentenversicherung
6. Zusammenfassung. Die Dynamik der ‚verantwortlichen Gesellschaft' und die Ökonomie des Bevölkerungsdiskurses
IV. »Seid fruchtbar und wehrt Euch“. Die ‚alternde Gesellschaft' und Geschlechternormierung. Schöpfungsordnung und Schöpfungsethik
1. Schöpfungsordnung. Der Protestantismus und die Schöpfungsgeschichte
2. Schöpfungsethik. Die Neubefragung der Schöpfungsgeschichte und des Schöpfungsauftrages
3. Zusammenfassung. Identität für ein gemeinsames Engagement gegen den Bevölkerungsdiskurs
V. «Uns ist ein Kind geboren“. Kinder als Garanten der Ordnung und Neuordnung - Hoffnungsträger und Initium
1. Das Wunschkind. Der Protestantismus und die Aushandlung von zwei gegensätzlichen Kindheitsentwürfen
2. Die gewünschte Zukunft des Kindes. Vorhersehung des Unvorhersehbaren und Berechnung des Unberechenbaren?
3. Inklusion und Exklusion. ‚Ausländische' Kinder inmitten der Deutungskämpfe um ‚Qualität' und ‚Quantität' der bundesdeutschen Bevölkerungsentwicklung
4. Zusammenfassung. Hoffnung, Zukunft und Ausgrenzung - Die Bedeutung von Kindheit im westdeutschen Protestantismus
VI. Fazit