Ohne Leidenschaften können Menschen nicht menschlich zusammen leben, aber ohne kulturelle Gestaltung können Leidenschaften menschliches Zusammenleben unmöglich machen. Ingolf U. Dalferth erläutert, warum beides wichtig ist: die Leidenschaften kulturell zu gestalten und die kulturellen Gestaltungen unserer Leidenschaften kritisch zu kontrollieren.
Dass das Leben des Glaubens affekt- und gefühlsbestimmt ist, war eine erfahrungsgesättigte Grundüberzeugung der Reformatoren. Der Wechsel vom Leben der Sünde zum Leben des Glaubens wird nicht als intellektuelle Einsicht oder freier Willensentschluss, sondern als ein Affektwechsel beschrieben, in dem der menschliche Wille von seinen sündigen Affekten befreit und durch neue, entgegengesetzte Affekte der Gnade bestimmt wird. Über die Affekte, Passionen, Emotionen, Gefühle oder kurz: die Leidenschaften des Menschen nachzudenken, ist daher eine zentrale Aufgabe theologischer Anthropologie. Ingolf U. Dalferth versucht das an den Beispielen der Angst, des Zorns, der Liebe, des Mitleids und des Vertrauens. Ohne Leidenschaften können Menschen nicht menschlich zusammenleben, aber ohne kulturelle Gestaltung können Leidenschaften zu unmenschlichem Verhalten führen und menschliches Zusammenleben behindern, schädigen oder unmöglich machen. Deshalb ist beides wichtig: die Leidenschaften kulturell zu gestalten und die kulturelle Gestaltung der Leidenschaften kritisch zu kontrollieren. Ohne Kultivierung der Leidenschaften ist menschliches Zusammenleben nicht möglich. Doch jede Kultivierung führt die Gefahr mit sich, das zu unterdrücken, was man zu gestalten versucht. Wo Leidenschaften bedenkenlos selbstisch ausgelebt werden, wird das Leben ebenso beschädigt wie dort, wo man die Leidenschaften zu unterdrücken sucht. Gegenüber beiden Fehlformen entfaltet Ingolf U. Dalferth in diesem Buch die These: Nicht die Leidenschaften, sondern das Selbstische an ihnen ist zu korrigieren, und nicht das Selbstische, sondern die Leidenschaften sind zu kultivieren.